Das vierte Gebot

Bisher haben wir die ersten drei Gebote behandelt, die auf Gott bezogen sind: Zum ersten, dass man ihm von ganzem Herzen vertraue, ihn fürchte und liebe in unserem ganzen Leben. Zum anderen, dass man seinen heiligen Namen nicht missbrauche, um zu lügen, oder für sonstige böse Zwecke, sondern ihn gebrauche zum Lob Gottes und zum Nutzen und zur Seligkeit unserer Mitmenschen und unser selbst. Zum dritten, dass man Zeiten der Feier und Ruhe dazu nutze, Gottes Wort mit Fleiß zu lehren und zu durchdenken, damit all unser Tun und Leben sich danach ausrichte.

Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren.

Es folgen nun die anderen sieben Gebote, die sich auf unsere Mitmenschen beziehen. Davon ist das erste und höchste folgendes:
Diesen Vater- und Mutterstand hat Gott in besonderer Weise ausgezeichnet vor allen andern Ständen, die ihm nachgeordnet sind, indem er nicht einfach gebietet, die Eltern lieb zu haben, sondern sie zu ehren. Denn im Hinblick auf Brüder, Schwestern und Mitmenschen allgemein befiehlt er nichts Höheres, als sie zu lieben. Damit unterscheidet er Vater und Mutter von allen anderen Personen auf Erden und stellt sie auf eine besondere Stufe neben sich. Denn »ehren« ist etwas viel Höheres als »lieben«, denn es umfasst nicht allein die Liebe, sondern auch eine gewisse Bescheidenheit, Demut und Scheu wie gegenüber einer darin verborgenen Hoheit; es genügt nicht, dass man sie freundlich und mit Ehrerbietung anspricht, sondern es gehört auch dazu, dass man von Herzen so eingestellt sei und dass sich diese Einstellung auch im Verhalten zeige, dass man viel von ihnen halte und sie nach Gott am höchsten schätze. Denn wen man von Herzen ehren soll, den muss man wahrhaftig für hoch und groß ansehen. Deshalb präge man den Kindern und Jugendlichen ein, ihre Eltern an Gottes Stelle vor Augen zu haben und zu denken: Auch wenn sie ohne besondere gesellschaftliche Stellung, arm, gebrechlich und wunderlich sind, so sind sie doch Vater und Mutter, von Gott gegeben. Dass sie sich im Alter verändern oder Irrtümern erliegen, beraubt sie nicht der verliehenen Würde. Darum soll man nicht darauf sehen, wie die Personen an und für sich sind, sondern dass Gottes Wille es so schafft und anordnet. Sonst sind wir zwar vor Gottes Augen alle gleich, aber eine menschliche Gemeinschaft kann ohne solche aufgabenbezogene Ungleichheit und ordentliche Unterscheidung auf längere Frist nicht funktionieren. Deshalb hat Gott auch geboten, diese Unterscheidung aufrechtzuerhalten, damit du mir als deinem Vater gehorsam seiest und ich die Oberhand habe.

So lerne nun zum Ersten, was die Ehrerbietung gegenüber den Eltern bedeutet, die in diesem Gebot verlangt wird, nämlich dass man die Eltern über alle Dinge wert achtet als den höchsten Schatz auf Erden, dass man außerdem ihnen gegenüber auch mit Worten bescheiden auftritt, sie nicht missgelaunt anfährt, ihnen nicht lautstark Vorhaltungen macht und nicht in rüdem Ton zu ihnen spricht, sondern sie Recht behalten lässt und schweigt, auch wenn sie einmal zu weit gegangen sind; drittens soll man ihnen auch mit Taten, das heißt mit eigener Person und mit dem eigenen Besitz insofern Ehrfurcht erweisen, als man ihnen zur Hand geht, ihnen hilft und sie versorgt, wenn sie alt, krank, gebrechlich oder bedürftig sind, und das nicht nur gern, sondern darüber hinaus mit Demut und unter Wahrung ihrer Würde, im Bewusstsein, dies vor Gott zu tun. Denn wer das weiß, wie er sie im Herzen achten soll, wird sie nicht Not oder Hunger leiden lassen, sondern sie hochschätzen und für sie sorgen, so gut er kann.

Zum andern sieh und merke, eine wie große, wichtige und heilige Aufgabe hier den Kindern gestellt ist, die man leider geringschätzt und in den Wind schlägt, und dabei nimmt niemand wahr, dass Gott das geboten hat und dass es ein heiliges, göttliches Wort und eine ebensolche Lehre ist. Denn wenn man es dafür gehalten hätte, hätte jeder daraus entnehmen können, dass diejenigen, die danach leben, heilige Leute sein müssen. Dann hätte man darauf verzichtet, Klöster oder besondere geistliche Stände zu erfinden, und jedes Kind wäre bei diesem Gebot geblieben und hätte sein Gewissen auf Gott hin ausrichten und sagen können: »Wenn ich gute und heilige Taten verrichten soll, so weiß ich freilich nichts Besseres, als meinen Eltern alle Ehre und Gehorsam zu leisten, weil Gott es selbst geboten hat. Denn was Gott gebietet, muss bei Weitem edler sein, als was wir selbst uns ausdenken. Und weil kein höherer oder besserer Lehrmeister zu finden ist als Gott, wird es freilich auch keine bessere Lehre geben als die, die er erteilt. Nun lehrt er ja reichlich, was man tun soll, wenn man rechtschaffene, gute Taten verrichten will, und damit, dass er sie gebietet, bezeugt er zugleich, dass sie ihm gefallen. Wenn Gott nun aber dies gebietet und sich nichts Besseres auszudenken weiß, so werde ich es ja wohl auch nicht besser machen.«

Sieh, so hätte man ein braves Kind ordentlich unterrichtet, in Übereinstimmung mit Gottes Willen erzogen und daheim behalten, in Gehorsam und Dienstbereitschaft gegenüber den Eltern, so dass Gutes daraus erwachsen wäre und man seine Freude daran gehabt hätte.

Anmerkungen:
  • statt es ins Kloster zu schicken.

Aber so genau hat man es mit Gottes Gebot nicht nehmen wollen, sondern hat es vernachlässigt und ist darüber hinweggegangen, so dass ein Kind den Sachverhalt nicht bedenken, sondern stattdessen nur das anstaunen konnte, was wir eigenmächtig aufgebracht hatten ohne jegliche Rücksprache mit Gott.

Darum lasst uns einmal lernen um Gottes willen, dass die Kinder und Jugendlichen, abgesehen von allem anderen, zuallererst dieses Gebot im Auge behalten, wenn sie Gott mit wirklichen guten Taten dienen wollen, dass sie tun, was Vater und Mutter oder anderen Erziehungsberechtigten lieb ist. Denn wenn ein Kind das weiß und tut, so hat es zum Ersten den großen Trost im Herzen, dass es fröhlich und stolz von sich sagen kann (zum Trotz und gegen alle, die selbsterfundene Leistungen erbringen): »Sieh, was ich hier mache, gefällt meinem Gott im Himmel gut, das weiß ich gewiss.« Lass sie mit ihren vielen großen, sauren, schweren Frömmigkeitsübungen alle in einer großen Menge zusammenkommen und sich rühmen, lass sehen, ob sie irgendeine anführen können, die größer und edler wäre als der Gehorsam gegenüber Vater und Mutter; den hat Gott in die Nähe des Gehorsams seiner eigenen Majestät gegenüber gerückt und hat befohlen, wenn Gottes Wille und Wort ausgerichtet wird und man sich danach hält, dass nur Wille und Wort der Eltern noch gelten sollen, allerdings im Rahmen des Gehorsams Gott gegenüber und nicht gegen seine Gebote.

Darum kannst du von Herzen froh sein und Gott danken, dass er dich dazu erwählt und würdig gemacht hat, solche von ihm geschätzten und ihm angenehmen Taten zu verrichten. Sieh es als etwas Großes und Kostbares an, auch wenn es als das Allergeringste und Verachtetste angesehen wird, nicht unserer Würdigkeit wegen, sondern weil es in die Kostbarkeit und das Heiligtum, nämlich in Gottes Wort und Gebot, eingefasst ist und da hineingehört. O wie viel müssten alle Kartäusermönche und -nonnen darum geben, wenn sie unter all ihren geistlichen Anstrengungen auch nur eine einzige Tat verrichteten und vor Gott brächten, die in Erfüllung seines Gebots geschähe und von der sie mit fröhlichem Herzen vor Gottes Augen sagen könnten: »Nun weiß ich, dass dir diese Tat gut gefällt.« Wo wollen sie, die armen, traurigen Leute, bleiben, wenn sie vor Gott und aller Welt schamrot und überaus beschämt stehen werden angesichts eines Kindes, das dieses Gebot in seinem Leben verwirklicht hat, und zugeben müssen, dass sie mit all ihrem vermeintlich heiligmäßigen Leben diesem das Wasser nicht reichen können? Wegen der teuflischen Verdrehung, weil sie Gottes Gebot mutwillig verachten, geschieht es ihnen recht, dass sie sich mit selbsterdachten Frömmigkeitsübungen quälen müssen und damit nur Spott und Schaden gewinnen.

Anmerkungen:
  • Der 1084 im unwirtlichen Bergland nahe Grenoble begründete Kartäuserorden galt als besonders streng. Seit 1147 gab es auch einen weiblichen Zweig.

Sollte nun nicht ein Herz hüpfen und vor Freude zerfließen, wenn es zur Arbeit ginge und täte, was ihm befohlen wäre, weil es sagen könnte: »Sieh, das ist besser als die Heiligkeit aller Kartäuser zusammen, selbst wenn sie sich zu Tode fasten und immerzu auf den Knien liegen und beten.« Denn hier hast du einen zuverlässigen Text und eine göttliche Aussage, dass er dies angeordnet hat, aber von jenem kein Wort befohlen. Aber das ist der Jammer und eine unglückselige Verblendung der Welt, dass dies niemand glaubt, so sehr hat uns der Teufel verzaubert mit falscher Heiligkeit und dem verführerischen Glanz selbstgewählter Frömmigkeitsübungen.

Darum wünschte ich sehr (ich sage es noch einmal), dass man Augen und Ohren öffnete und das zu Herzen nähme, damit wir nicht künftig irgendwann einmal wieder weg von dem reinen Gotteswort und hin zu teuflischen Lügengespinsten verführt werden. Dann hätten die Eltern umso mehr Freude, Liebe, Zuneigung und Einigkeit in ihren Häusern, und die Kinder könnten die ganze Liebe ihrer Eltern gewinnen.

Wenn sie hingegen eigensinnig sind und erst dann tun, was sie sollen, wenn man ihnen einen Knüppel auf den Rücken legt, erzürnen sie Gott und ihre Eltern und bringen sich selbst um diesen Schatz und die Freude des Gewissens; stattdessen sammeln sie nur Unglück. Darum geht es auch jetzt in der Welt so zu, wie jeder beklagt, nämlich dass Jung und Alt wild und zügellos leben, keinen Respekt anderen gegenüber und keine Selbstachtung zeigen, zu allem mit Schlägen getrieben werden müssen und andere hinter deren Rücken verleumden und niedermachen, so viel sie können. Darum straft Gott auch, so dass sie in allen Schaden und Unglück kommen. So können die Eltern für gewöhnlich selbst nichts; ein Versager erzieht den anderen; was sie vorgelebt haben, leben ihre Kinder ihnen nach.

Das soll nun also (sage ich) das Erste und Größte sein, das uns zur Erfüllung dieses Gebots antreibt. Ja, wenn wir keinen Vater und keine Mutter hätten, hätten wir deshalb wünschen sollen, dass uns Gott Holz und Stein hinstellte, die wir Vater und Mutter nennen könnten. Weil er uns lebendige Eltern gegeben hat, sollen wir uns erst recht darüber freuen und ihnen Ehre und Gehorsam erweisen. Weil wir wissen, dass es dem erhabenen Gott und allen Engeln so gut gefällt und alle Teufel verdrießt, dass es zudem das Beste ist, was man tun kann, nächst dem hohen Gottesdienst, wie er in den vorigen Geboten enthalten ist, so dass Spenden und alle anderen guten Taten gegenüber Mitmenschen nicht daran herankommen. Denn Gott hat diesen Stand an die Spitze gestellt, ja an seine (Gottes) eigene Stelle auf Erden gesetzt. Solcher Wille Gottes und sein Wohlgefallen sollen uns Grund und Antrieb genug sein, freiwillig und freudig zu tun, was wir können.

Überdies sind wir ja auch in den Augen der Öffentlichkeit dazu verpflichtet, für alles Gute, das wir von den Eltern haben, dankbar zu sein. Aber da regiert wiederum der Teufel in der Welt, so dass die Kinder ihre Eltern vergessen, wie wir alle Gott vergessen, und niemand macht sich Gedanken darüber, wie uns Gott ernährt, behütet und beschützt und uns so viel Gutes gibt für Körper und Seele, und insbesondere wenn einmal eine böse Stunde kommt, zürnen und murren wir mit Ungeduld, und alles ist vergessen, was wir ein Leben lang Gutes empfangen haben. Ebenso halten wir es mit den Eltern, und kein Kind erkennt und bedenkt das, wenn es ihm der Heilige Geist nicht schenkt. Diese Unart der Welt kennt Gott recht gut, darum erinnert und treibt er sie mit Geboten, damit jeder bedenke, was die Eltern für ihn getan haben. Dann kommt er zu dem Schluss, dass er Körper und Leben von ihnen hat, von ihnen ernährt und aufgezogen wurde, wo er sonst hundertmal im eigenen Dreck erstickt wäre. Darum ist es wahr und zutreffend von alten weisen Leuten gesagt worden: »Deo, parentibus et magistris non potest satis gratiae rependi«, das bedeutet: »Gott, den Eltern und Lehrern kann man niemals genug danken oder ihnen ihre Wohltaten vergelten.«

Anmerkungen:
  • Sprichwort unbekannter Herkunft.

Wer das betrachtet und darüber nachdenkt, der wird wohl aus eigenem Antrieb seinen Eltern alle Ehre erweisen und sie auf Händen tragen, weil ihm Gott durch sie alles Gute getan hat. Über das alles hinaus soll auch ein großer Antrieb für uns sein, dass Gott an dieses Gebot eine freundliche Verheißung knüpft und spricht: »Auf dass du langes Leben habest im Lande, in dem du wohnst.« Da sieh selbst, wie ernst es Gott mit diesem Gebot ist, denn er sagt nicht nur, dass es ihm angenehm sei und er Freude und Gefallen daran empfinde, sondern dass es auch uns gelingen und zum Besten gedeihen solle, dass wir ein angenehmes, süßes Leben haben mögen mit allem Guten.

Deshalb hebt auch der heilige Paulus in Epheser 6 dies besonders hervor und rühmt es, indem er sagt: »Das ist das erste Gebot, das eine Verheißung hat: ›auf dass dir’s wohlgehe und du lange lebest auf Erden‹« [Eph 6,2f]. Zwar haben die anderen Gebote auch ihre Verheißungen, aber zu keinem anderen ist sie so deutlich und ausdrücklich hinzugesetzt.

Da hast du nun die Frucht und den Lohn, dass, wer es hält, gute Tage, Glück und Wohlergehen haben soll, und wiederum die Strafe, dass, wer ungehorsam ist, desto eher umkommen und des Lebens nicht froh werden soll. Denn »langes Leben haben« nennt die Schrift nicht nur hochbetagt werden, sondern alles haben, was zu einem langen Leben gehört, wie Gesundheit, Familie, Lebensunterhalt, Frieden, eine gute gesellschaftliche Ordnung etc., ohne das dies Leben nicht fröhlich genossen noch auf Dauer erhalten werden kann. Willst du nun Vater und Mutter nicht gehorchen und dich nicht erziehen lassen, so gehorche dem Henker, gehorchst du dem nicht, so gehorche dem Streckebein, das ist der Tod. Denn so will Gott es nun einmal halten: Entweder, wenn du ihm gehorchst, Liebe und Dienst erweist, dass er es dir überschwänglich vergelte mit allem Guten, oder, wenn du ihn erzürnst, dass er dir Tod und Henker auf den Hals schicke. Wo anders kommen so viele Übeltäter her, die man täglich hängen, köpfen und rädern muss, wenn nicht vom Ungehorsam? Weil sie sich nicht mit Güte haben erziehen lassen, haben sie es durch Gottes Strafe dahin gebracht, dass man Unglück und Herzeleid an ihnen sieht. Denn es geschieht sehr selten, dass solche verruchten Leute eines natürlichen und späten Todes sterben.

Die Rechtschaffenen aber und Gehorsamen haben den Segen, dass sie lange in guter Ruhe leben und ihre Enkel sehen (wie oben gesagt) »in dritter und vierter Generation«. So zeigt sich auch, dass, wo ehrbare alte Familien sind, die blühen und viele Kinder haben, diese gewiss daher kommen, dass viele davon wohlerzogen sind und ihre Eltern ihnen Vorbilder waren. Hingegen steht über den Gottlosen geschrieben, Ps 109[,13]: »Seine Nachkommen müssen ausgerottet werden, und ihr Name muss in einer Generation untergehen.« Darum lass dir’s gesagt sein, wie bedeutsam der Gehorsam bei Gott ist, weil er ihn so hoch bewertet, selbst Gefallen daran hat und ihn reichlich belohnt, zudem streng darauf achtet, dass die gestraft werden, die dagegen verstoßen.

Das sage ich alles, damit man es den Kindern und Jugendlichen gut einschärfe, denn niemand glaubt, wie nötig dies Gebot ist. Unter dem Papsttum hat man es bisher nicht geachtet und nicht gelehrt. Es sind schlichte und einfache Worte, und jeder meint, er hätte es schon verstanden, darum geht man leichtfertig darüber hinweg und hält Ausschau nach andern Dingen, sieht und glaubt nicht, dass man Gott so hoch erzürnt, wenn man es vernachlässigt, noch dass man so kostbare und gottgefällige Taten vollbringt, wenn man daran festhält.

In den Bereich dieses Gebotes gehört es ferner, von allerlei Gehorsam gegen Vorgesetzte zu reden, die zu befehlen und zu regieren haben. Denn aus der Vorrangstellung der Eltern leitet sich jede andere ab. Denn wo ein Vater sein Kind nicht allein erziehen kann, nimmt er einen Lehrer dazu, der es unterrichtet; wenn er allein zu schwach ist, nimmt er seine Verwandten oder Nachbarn zu Hilfe; wenn er stirbt, so befiehlt er die Leitung seines Hauswesens anderen an, die man dazu bestimmt. Entsprechend muss er auch Bedienstete, Knechte und Mägde zur Leitung des Hauswesens unter sich haben. Daher stehen alle, die man Vorgesetzte nennt, an der Stelle der Eltern und müssen von ihnen her Kraft und Vollmacht zum Regieren empfangen. Deshalb heißen sie auch gemäß der Schrift alle Väter, weil sie in ihrer Leitungsfunktion das Vateramt ausüben und ein väterliches Herz für ihre Untergebenen haben sollen. So haben auch von alters her die Römer und andere Sprachen Herren und Herrinnen im Haus patres et matres familias genannt, das bedeutet »Hausväter und Hausmütter«. So haben sie auch ihre Landesfürsten und hohen Würdenträger Patres patriae genannt, das bedeutet »Väter des ganzen Landes«. Eine große Schande für uns, die wir Christen sein wollen, dass wir sie nicht auch so nennen oder wenigstens dafür halten und entsprechend ehren.

Wozu nun ein Kind Vater und Mutter gegenüber verpflichtet ist, dazu sind auch alle diejenigen verpflichtet, die unter die Leitung des Hauswesens gehören. Darum sollen Knechte und Mägde zusehen, dass sie ihrer Dienstherrschaft nicht nur gehorsam sind, sondern sie auch in Ehren halten wie ihre eigenen Väter und Mütter; alles, wovon sie wissen, dass man es von ihnen erwartet, sollen sie nicht aus Zwang oder mit Widerwillen tun, sondern gern und mit Freude, eben aus dem genannten Grund, dass es Gottes Gebot ist und ihm besser gefällt als alles andere. Darum sollten sie sogar bereit sein, auf einen Teil ihres Lohns zu verzichten, und sich freuen, dass sie Herren und Herrinnen erhalten, ein so fröhliches Gewissen haben und wissen, wie sie wahrhaft goldene Taten vollbringen sollten; diese wurden bisher unterschätzt und missachtet, stattdessen lief jeder in des Teufels Namen in Klöster, zu Wallfahrten und zum Ablass, mit Schaden und bösem Gewissen.

Anmerkungen:
  • Vgl. aber Dtn 24,14f; Lk 10,7; 1 Kor 9,7–10.

  • Der Ablass hatte sich im Rahmen des mittelalterlichen Bußwesens entwickelt als eine Möglichkeit, der sehr verbreiteten Furcht vor Strafe im Fegefeuer zu begegnen und gleichzeitig horrende Einnahmen für die vorreformatorische Kirche zu sichern: Man bot den Gläubigen an, gegen eine angemessene Geldzahlung zur Unterstützung kirchlicher Einrichtungen ihren nach dem Tod zu erwartenden Aufenthalt im Fegefeuer zu verkürzen oder ihn ganz zu umgehen. Als der Dominikaner Johann Tetzel im Dienste des Mainzer Erzbischofs Albrecht von Brandenburg den Ablass zur Unterstützung des Baus des Petersdoms in Rom (und zur Zahlung der Schulden des Erzbischofs beim Augsburger Bankhaus Fugger) 1517 nahe der Grenze zum kursächsischen Territorium verkaufte, erfuhr Luther in Wittenberg von den Praktiken des Ablasshandels, und sein Widerspruch dagegen löste die Reformation aus. Luther vertrat die Auffassung, dass Gott den Glaubenden aus Gnade um Christi willen die Sünde vorbehaltlos vergibt.

Wenn man das den Leuten einprägen könnte, so würde ein Mädchen nur noch vor Freude hüpfen, Gott loben und danken und mit gewissenhafter Arbeit, für die sie auch noch Unterhalt und Bezahlung erhält, einen solchen Schatz erwerben, wie ihn alle, die man für die Heiligsten hält, nicht haben. Was könnte man Großartigeres von sich sagen als dies: »Wenn du deine tägliche Hausarbeit verrichtest, so ist das besser als die Heiligkeit und das strenge Leben sämtlicher Mönche«? Und außerdem hast du die Zusage, dass es dir zu allem Guten ausschlagen und wohlgehen soll. Wie willst du in größerem Einklang mit Gott sein oder heiliger leben, soweit es dein Tun betrifft? Denn vor Gott macht eigentlich allein der Glaube heilig und dient ihm allein, die Taten dienen den Mitmenschen. Da hast du allen Besitz, Schutz und Schirm unter dem Herrn, ein fröhliches Gewissen und einen gnädigen Gott dazu, der es dir hundertfältig vergelten will, und bist sogar ein Edelmann, wenn du nur zuverlässig und gehorsam bist. Wenn aber nicht, so hast du vor allem Zorn und Ungnade von Gott, keinen Frieden im Herzen, und außerdem alles Leiden und Unglück. Wen diese Aussichten nicht dazu bewegen können, rechtschaffen zu werden, den verweisen wir an den Henker und an Streckebein.

Darum bedenke jeder, der sich belehren lassen will, dass es Gott kein Scherz ist, und wisse, dass Gott mit dir redet und Gehorsam fordert. Gehorchst du ihm, so bist du das liebe Kind, verachtest du das Wort aber, so sollst du auch Schande, Jammer und Herzeleid zum Lohn haben.

Desgleichen ist auch vom Gehorsam gegenüber der weltlichen Obrigkeit in diesem Abschnitt zu reden, die (wie schon gesagt) allesamt in den Bereich der Elternschaft gehört und am weitesten ausgreift. Denn hier ist nicht ein einzelner Vater, sondern die Obrigkeit verkörpert gewissermaßen einen so vielfachen Vater, wie es unter ihrer Oberherrschaft Bürger oder Untertanen gibt. Denn Gott gibt und erhält uns durch sie wie durch unsere Eltern Nahrung, Haus und Hof, Schutz und Sicherheit. Weil sie diesen Namen und Titel als höchste Auszeichnung mit allen Ehren führen, sind wir auch verpflichtet, dass wir sie ehren und hochschätzen als den teuersten Schatz und die größte Kostbarkeit auf Erden.

Anmerkungen:
  • Besitz, Wohnung und wirtschaftliche Existenzgrundlage in einem.

Wer nun hierin gehorsam, bereitwillig und einsatzfreudig ist und gern alles tut, was die Ehre anbetrifft, der weiß, dass er Gott gefällt und Freude und Glück als Belohnung erhält. Will er es nicht mit Liebe tun, sondern verachtet es, sträubt sich oder beklagt sich lautstark, dann muss er wissen, dass er weder Gottes Wohlwollen noch sein Wohltun erlangt. Und wo er ein Goldstück zu gewinnen meint, verliert er anderswo zehn oder fällt dem Henker in die Hände, kommt durch Krieg, Seuche und Geldentwertung um oder erlebt an seinen Kindern nichts Gutes, muss von Mitarbeitern, Nachbarn oder Fremden und Gewaltherrschern Schaden, Unrecht und Gewalt erleiden, damit uns ausgezahlt und vergolten werde, wonach wir streben und was wir verdienen.

Wenn wir nur ein einziges Mal die Botschaft aufnähmen, dass solche Handlungen Gott so angenehm sind und uns so reichliche Belohnungen einbringen, dann säßen wir inmitten übergroßer Reichtümer und hätten, was unser Herz begehrt. Weil man aber auf Gottes Wort und Gebot nichts gibt, als wäre es der reißerische Werbespruch irgendeines Marktschreiers ohne jeden Anhalt an der Wirklichkeit, so zeige doch, ob du ihm tatsächlich die Stirn bieten kannst! Wie schwer wird es ihm wohl fallen, dir dein Tun zu vergelten? Darum lebtest du viel besser mit Gottes Wohlgefallen, Friede und Glück als mit Ungnade und Unglück. Warum, meinst du, ist jetzt die Welt so voller Untreue, Schande, Jammer und Mord, wenn nicht deshalb, weil jeder sein eigener Herr und völlig ungebunden sein will, nach keiner anderen Meinung fragt und alles tut, wozu er Lust hat? Darum bestraft Gott den einen Übeltäter mit dem anderen, so dass, wenn du deinen Herrn betrügst oder verachtest, ein anderer kommt, der dir ebenso übel mitspielt, ja in deinem eigenen Haus musst du von Seiten deines Ehepartners, eurer Kinder oder Bediensteten zehnmal mehr ertragen.

Wir spüren unser Unglück wohl, murren und klagen über Untreue, Gewalt und Unrecht, wollen aber nicht zur Kenntnis nehmen, dass wir selbst Bösewichter sind, die Strafe reichlich verdient haben, und werden keinen Deut besser davon. Gnade und Glück wollen wir nicht haben, also bekommen wir zu recht pures Unglück ohne alle Barmherzigkeit. Anscheinend leben doch irgendwo noch einige fromme Leute auf der Erde, da uns Gott noch so viel Gutes zuteilwerden lässt [vgl. Gen 18,20–33]. Unseretwegen dürften wir keinen Heller im Haus und keinen Strohhalm auf dem Acker behalten.

Das alles habe ich mit so vielen Worten erörtern müssen, damit es vielleicht doch einmal jemand zu Herzen nimmt und wir aus der tiefen Verblendung und dem Elend, in dem wir uns befinden, endlich herauskommen, Gottes Wort und Willen wahrhaft erkennen und mit Ernst annehmen. Denn daraus würden wir lernen, wie wir in diesem Leben und in der Ewigkeit genug Freude, Glück und Wohlergehen bekommen.

Wir haben demnach drei Arten von Vätern in der Auslegung dieses Gebots vorgestellt: die leiblichen Väter, die verantwortlichen Hausväter und die Väter in leitenden Ämtern des Gemeinwesens. Es gibt außerdem auch noch geistliche Väter, allerdings nicht so wie im Papsttum, die sich zwar so nennen ließen, aber nicht wirklich als Väter für uns da waren. Denn nur diejenigen heißen mit Recht geistliche Väter, die uns durch Gottes Wort Wegweisung geben und Halt, wie sich der heilige Paulus rühmt, ein Vater zu sein, indem er spricht 1 Kor 4[,15]: »Ich habe euch gezeugt in Christus Jesus durch das Evangelium.« Weil sie nun Väter sind, gebührt ihnen auch die Ehre, wohl vor allen andern, aber da wird sie am wenigsten erwiesen; denn die Welt ehrt ihre geistlichen Väter auf die Art, dass man sie aus dem Land vertreibt und ihnen kein Stück Brot gönnt, und alles in allem hält man sie (wie Paulus sagt [vgl. 1 Kor 4,13]) für den letzten Dreck.

Anmerkungen:
  • Der Papst, Bischöfe, Äbte, Welt- und Ordenspriester werden herkömmlich im römischen Katholizismus als Väter angeredet.

Es ist aber nötig, auch dem gewöhnlichen Volk einzuprägen, dass diejenigen, die Christen heißen wollen, vor Gott verpflichtet sind, ihre Seelsorger »besonders in Ehren zu halten« [vgl. 1 Tim 5,17], ihnen wohlzutun und sie zu versorgen. Gott wird dafür sorgen, dass du genug dafür übrig behältst und kein Mangel deshalb eintritt. Aber da verweigert sich jeder und wehrt ab, und alle haben Sorge, ihr eigener Bauch könnte verschmachten, und sehen sich nicht in der Lage, auch nur einen einzigen rechtschaffenen Prediger mit Unterhalt zu versorgen, wo wir früher zehn Mastbäuche gefüllt haben. Wir hätten es verdient, dass Gott uns sein Wort und seinen Segen wieder wegnähme und wieder Lügenprediger kommen ließe, die uns zum Teufel führten und uns ausplünderten.

Anmerkungen:
  • Mit der Reformation wurden zahlreiche Pfründenstellen abgeschafft; insbesondere Stiftungen, aus deren Einkünften Priester bezahlt worden waren, damit sie für das Seelenheil Verstorbener Messen lasen, wurden infolge der reformatorischen Erkenntnis, dass dieses Vorgehen weder Gottes Wort noch seinem Willen entspricht, aufgehoben. Luther hätte es gern gesehen, wenn die frei werdenden Stiftungsgelder und Abgaben genutzt worden wären, um den Unterhalt der Pfarrer und Prediger und ihrer Angehörigen zu sichern und Überschüsse zur Einrichtung von Schulen und für karitative Zwecke zu gebrauchen. Das gelang allerdings nicht immer, vielfach bereicherten sich auch weltliche Fürsten und Herren an den Kirchengütern.

Die aber Gottes Willen und sein Gebot im Blick behalten, haben die Zusage, dass ihnen reichlich vergolten werden soll, was sie für leibliche und geistliche Väter aufwenden und ihnen zu Ehren tun. Es geht nicht darum, dass sie ein oder zwei Jahre lang Brot, Kleider und Geld haben sollen, sondern langes Leben, Nahrung und Frieden, und sie sollen ewig reich und im Einklang mit Gott sein. Darum tu nur, wozu du verpflichtet bist, und lass Gott dafür sorgen, wie er dich ernährt und genug herbeischafft. Hat er es zugesagt und noch nie gelogen, so wird er auch dich nicht belügen.

Das müsste uns dazu bewegen, dass unser Herz geradezu zerschmölze vor Zuneigung und Liebe zu denen, denen unsere Ehrerbietung gebührt, so dass wir mit betend erhobenen Händen Gott fröhlich dankten, der uns zugesagt hat, wonach wir sonst bis ans Ende der Welt vergeblich laufen müssten. Denn auch wenn die ganze Welt eine gemeinsame Anstrengung unternähme, könnte sie uns doch das Leben nicht um eine einzige Stunde verlängern oder ein einziges Korn aus der Erde hervorbringen. Gott aber kann und will dir alles überschwänglich geben, wie es dir gefällt. Wer dies nun verachtet und in den Wind schlägt, der ist nicht wert, dass er ein Gotteswort höre.

Das ist nun sehr ausführlich all denjenigen gesagt, die dieses Gebot verpflichtet. Ergänzend sollte man auch den Eltern und denjenigen, die ein elterliches Amt bekleiden, predigen, wie sie sich denjenigen gegenüber verhalten sollen, die ihnen anvertraut sind, um sie zu leiten. Das steht zwar nicht ausdrücklich in den Zehn Geboten, ist aber sonst an vielen Stellen der Schrift ausführlich dargelegt. Außerdem will Gott es in ebendiesem Gebot insofern mit eingeschlossen wissen, als er Vater und Mutter erwähnt; denn er will weder Verbrecher noch Tyrannen in dieser Leitungsfunktion haben; er spricht ihnen Ehre, das heißt: Recht und Macht zu regieren, auch nicht darum zu, damit sie sich anbeten lassen, sondern damit sie sich ihrer Verantwortung vor Gott bewusst sind und vor allen Dingen ihre Pflicht gern und treu erfüllen, ihre Kinder, Bediensteten, Untergebenen etc. nicht nur zu ernähren und ihre körperlichen Bedürfnisse zu befriedigen, sondern sie vor allem auch zu Gottes Lob und Ehre großzuziehen. Darum denke nicht, dass dies deinem Belieben und deiner Willkür überlassen sei, sondern dass Gott es streng geboten und dich dazu verpflichtet hat. Ihm gegenüber wirst du dich deswegen auch verantworten müssen.

Da ist nun wiederum die leidige Plage, dass niemand das wirklich zur Kenntnis nimmt und beachtet. Sie leben dahin, als gäbe uns Gott Kinder zum Vergnügen und zum Zeitvertreib, Bedienstete als bloße Arbeitstiere und Untergebene, um sie beliebig herumzukommandieren, als ginge es uns nichts an, was sie lernen oder wie sie leben. Und niemand will wahrhaben, dass es der Befehl des erhabenen Gottes ist, der das mit ganzem Ernst einfordern und bestrafen wird, und dass es so sehr nötig ist, dass man sich der Jugend mit Ernst annehme. Denn wenn wir tüchtige, geschickte Leute haben wollen, die Aufgaben in Gesellschaft und Kirche erfüllen können, dann dürfen wir weder Fleiß noch Mühe noch Kosten für die Ausbildung unserer Kinder sparen und nicht nur daran denken, wie wir für sie Geld und Besitz sammeln; denn Gott kann sie auch ohne uns ernähren und reich machen, wie er es auch täglich tut. Darum aber hat er uns Kinder gegeben und unserer Fürsorge anbefohlen, damit wir sie nach seinem Willen großziehen und leiten. Für anderes bräuchte er nicht Vater und Mutter. Darum soll jeder wissen, dass er verpflichtet ist, wenn er Gottes Wohlwollen nicht verlieren will, seine Kinder vor allem zur Ehrfurcht gegenüber Gott und zur Erkenntnis Gottes zu erziehen und, wenn sie dazu geeignet sind, auch lernen und studieren zu lassen, damit man sie einsetzen kann, wo es nötig ist.

Wenn man das nun wirklich täte, würde uns Gott auch reichlich segnen und es gelingen lassen, dass man solche Leute erzöge, von denen Land und Leute Vorteil hätten, überdies tüchtige, wohlerzogene Bürger, anständige und häusliche Frauen, die dann auch entsprechend rechtschaffene Kinder und Bedienstete aufziehen würden. Da überlege nun selbst, einen wie entsetzlichen Schaden du anrichtest, wenn du in dieser Angelegenheit nachlässig bist und lässt es an dir scheitern, dass dein Kind nützlich und im Einklang mit Gott erzogen werde, und wie du Sünde und Zorn auf dich lädst und auf diese Weise die Hölle an deinen eigenen Kindern verdienst, selbst wenn du sonst rechtschaffen und heilig wärest. Deswegen bestraft auch Gott, weil man das missachtet, die Welt so schrecklich, dass man weder Ordnung noch Regierung oder Frieden hat, was wir auch alle beklagen, ohne aber zu sehen, dass es unsere Schuld ist; denn wie wir sie aufziehen, dementsprechend haben wir ungeratene und ungehorsame Untergebene. Das sei genug zur Ermahnung; denn so etwas ausführlich zu behandeln, wird ein andermal gelegenere Zeit sein.

Anmerkungen:
  • Vgl. Martin Luther, Predigt, dass man Kinder zur Schule halten solle (1530), WA 30/II, 517–588.