Das fünfte Gebot
Du sollst nicht töten.
Wir haben uns bislang mit der Bewältigung der kirchlichen und der weltlichen Leitungsaufgaben auseinandergesetzt, das heißt mit göttlichem und mit elterlichem Gehorsam. Hier aber gehen wir nun gleichsam aus unserem Haus heraus unter die Leute, um zu lernen, wie wir miteinander leben sollen, jeder Einzelne in der Beziehung zu seinen Mitmenschen. Darum sind Gott und die Obrigkeit in dieses Gebot nicht einbezogen, und es wird ihnen damit nicht die Befugnis genommen zu töten. Denn Gott hat sein Recht, Übeltäter zu bestrafen, der Obrigkeit anstelle der Eltern anbefohlen, die vorzeiten (wie man in den fünf Büchern Mose lesen kann [vgl. Dtn 21,18–21]) ihre Kinder selbst vor Gericht stellen und zum Tod verurteilen mussten. Darum betrifft, was hier verboten ist, Privatpersonen untereinander und nicht die Obrigkeit.
Dies Gebot ist nun leicht verständlich und wird oft behandelt, weil man es jedes Jahr in Matthäus 5[,21-26] hört, wo es Christus selbst auslegt und zusammenfasst, nämlich dass man nicht töten soll, weder mit Hand, Herzen, Mund, Zeichen, Gebärden noch Beihilfe oder Hinweisen.
Als Evangelium zum 6. Sonntag nach Trinitatis.
Darum ist auch darin allen verboten zu zürnen, ausgenommen, wie gesagt, diejenigen, die Gottes Stelle vertreten sollen, also die Eltern und die Obrigkeit. Denn Gott und die ihn vertreten sollen, dürfen zürnen, tadeln und strafen eben um derentwillen, die dieses und andere Gebote übertreten.
Die Veranlassung und Notwendigkeit dieses Gebotes ergibt sich daraus, dass Gott sehr wohl weiß, wie böse die Welt ist und dass in diesem Leben vielerlei Unglück geschieht. Darum hat er dieses und andere Gebote zwischen Gut und Böse gestellt. Mitunter fällt es uns nicht leicht, die Gebote zu befolgen, so auch hier, denn wir müssen unter vielen Leuten leben, die uns Leid zufügen, so dass wir Ursache bekommen, ihnen böse zu sein. Wenn zum Beispiel dein Nachbar sieht, dass du einen schöneren Besitz, mehr Geld und größeres Glück von Gott erhalten hast als er, so verdrießt ihn das, er beneidet dich und redet nichts Gutes über dich. Also bekommst du viele Feinde durch den Ansporn des Teufels, die dir weder körperlich noch geistlich etwas Gutes wünschen. Wenn man nun solche Leute sieht, so will unser Herz wiederum wüten und Blut vergießen und sich rächen. Es kommt zum Zurückfluchen und zur Schlägerei, woraus dann Jammer und Totschlag entstehen. Dem beugt nun Gott vor wie ein freundlicher Vater, vermittelt und will den Streit schlichten, damit kein Unglück daraus entsteht und nicht einer den andern niedermacht. Alles in allem geht es ihm darum, jeden Menschen zu beschützen, zu befreien und ihm zum Frieden zu verhelfen vor den Übergriffen und der Gewalt anderer. Er stellt dieses Gebot als eine Ringmauer, Festung und sichere Zuflucht um den Mitmenschen herum, damit man ihm kein Leid und keine körperlichen Verletzungen zufügt.
Der Sinn dieses Gebotes ist also, dass man niemandem ein Leid zufüge wegen irgendetwas Bösem, auch wenn er es sehr wohl verdient hätte. Denn wo Totschlag verboten ist, da ist auch alles verboten, was in letzter Konsequenz zum Totschlag führen könnte. Denn mancher tötet zwar nicht, flucht aber doch und wünscht dem anderen Böses. Weil das nun den Menschen von Natur eigen ist, dass keiner sich etwas von einem anderen gefallen lassen will, so will Gott die Wurzel und den Ursprung beseitigen, durch welche das Herz gegen die Mitmenschen erbittert wird, und uns daran gewöhnen, dass wir allezeit dies Gebot vor Augen haben und uns darin wiedererkennen, Gottes Willen betrachten und ihm das Unrecht, das wir erleiden, anbefehlen mit herzlichem Vertrauen und Anrufen seines Namens, so dass wir unsere Widersacher feindlich wüten und zürnen lassen, so gut sie eben können. So soll ein Mensch lernen, seinen Zorn im Zaum zu halten und Geduld und Sanftmut zu üben, insbesondere denen gegenüber, die ihm Anlass zum Zorn geben, also gegenüber seinen Feinden.
Vgl. erstes Gebot.
Vgl. zweites Gebot.
Darum ist die Zusammenfassung dieses Gebots (um den Unkundigen aufs deutlichste einzuprägen, was »nicht töten« bedeutet) folgende: 1. Man soll niemandem etwas zuleide tun, weder mit der Hand oder durch die Tat, noch mit der Zunge zu etwas anstiften oder raten, man soll darüber hinaus auch keine Mittel bereitstellen oder Gelegenheiten herbeiführen, durch die jemand beleidigt werden könnte, schließlich soll auch das Herz niemandem gegenüber feindlich gesinnt sein oder ihm aus Zorn oder Hass Böses wünschen, so dass Körper und Seele an niemandem schuldig werden, vor allem auch an demjenigen nicht, der dir Böses wünscht und zufügt. Denn demjenigen, der dir Gutes wünscht und tut, Böses zu tun, wäre nicht menschlich, sondern teuflisch.
- Gegen dieses Gebot verstößt aber nicht nur derjenige, der Böses tut, sondern auch derjenige, der es unterlässt, seinem Mitmenschen Gutes zu tun, Schaden von ihm abzuwenden, abzuwehren, ihn zu schützen und zu retten, obwohl er es könnte. Wenn du einen nackt wegschickst, obwohl du ihm Kleidung geben könntest, dann hast du ihn erfrieren lassen. Wenn du jemanden hungern siehst und gibst ihm nichts zu essen, dann lässt du ihn verhungern [vgl. Jak 2,15f]. Ebenso wenn du jemanden siehst, der zum Tod verurteilt worden ist oder der aus anderem Grund in Todesgefahr schwebt, und du rettest ihn nicht, obwohl du Mittel und Wege dazu wüsstest, dann hast du ihn getötet. Dabei wird es dir nichts nützen, dass du dich damit herauszureden versuchst, du habest keine Beihilfe geleistet durch Worte oder Handlungen; du hast ihm nämlich die Liebe entzogen und ihn der Wohltat beraubt, durch die er am Leben geblieben wäre.
Darum nennt auch Gott mit Recht alle diejenigen Mörder, die in Notfällen und bei Gefahr für Leib oder Leben weder raten noch helfen, und wird ein überaus schreckliches Urteil über sie ergehen lassen am Jüngsten Tag, wie Christus selbst verkündigt hat [Mt 25,42f], und sprechen: »Ich bin hungrig und durstig gewesen, und ihr habt mir weder zu essen noch zu trinken gegeben; ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich nicht beherbergt; ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich nicht bekleidet; ich bin krank und gefangen gewesen, und ihr habt mich nicht besucht.« Das heißt: Ihr hättet mich und die Meinen ungerührt an Hunger, Durst und Kälte sterben oder wilde Tiere uns zerreißen lassen, ihr hättet uns im Gefängnis verfaulen und in Not umkommen lassen. Was bedeutet das anderes, als als Mörder und Bluthunde gescholten zu werden? Denn wenn du das Verbrechen auch nicht als aktiv Handelnder begangen hast, so hast du deinen Mitmenschen doch, soweit es auf dich angekommen wäre, im Unglück stecken und umkommen lassen. Das ist, als ob ich jemanden sähe, der in tiefem Wasser gegen das Ertrinken ankämpft oder der in ein Feuer gefallen ist, und ich könnte ihm die Hand reichen, ihn herausreißen und retten, aber täte es doch nicht – stünde ich nicht vor aller Welt als Mörder und Bösewicht da?
Wörtlich: Gast. Dem liegt offenbar die Anschauung zugrunde, der Gaststatus sei nicht vom Wohlwollen des Gastgebers abhängig, sondern das Gastrecht fordere die gastliche Aufnahme des Fremden allein aufgrund von dessen Bedürftigkeit.
Deshalb geht es Gott letztlich darum, dass wir keinem Menschen Leid widerfahren lassen, sondern ihm Gutes und Liebe erweisen; und das Gebot zielt besonders auf die Beziehung zu unseren Feinden. Denn um Freunden Gutes zu tun, dazu braucht man wirklich kein Christ zu sein, wie auch Christus Mt 5[,46f] sagt.
Da haben wir nun wiederum Gottes Wort, womit er uns anspornen und begeistern will zu echten, edlen, hochgesinnten Verhaltensweisen, wie Sanftmut, Geduld und – alles in allem – Liebe und Wohltat gegenüber unseren Feinden, und er will uns fortwährend erinnern, dass wir an das erste Gebot zurückdenken, dass er unser Gott sei, das bedeutet, dass er uns helfen, beistehen und uns schützen wolle, damit er in uns die Neigung dämpft, uns zu rächen. Das sollte man nun gründlich behandeln und einprägen, dann hätten wir alle Hände voll guter Taten zu verrichten. Aber das wäre nicht im Sinne der Mönche, würde dem geistlichen Stand zu sehr schaden und der vermeintlichen Heiligkeit der Kartäusermönche zu nahe treten, deshalb würde man behaupten, es handle sich um das Verbot guter Taten und die Räumung und Schließung von Klöstern. Denn auf diese Weise würde der einfache Christenmensch genauso viel, ja viel mehr gelten als ein Mönch oder eine Nonne, und jedermann sähe, wie sie die Welt mit falschem, heuchlerischem Schein der Heiligkeit äffen und verführen, weil sie dieses und andere Gebote in den Wind geschlagen und für unnötig erklärt haben, als wären es nicht Gebote, sondern Ratschläge,
Von den Zehn Geboten, die als für alle Menschen verpflichtend galten, unterschied man die »evangelischen Räte«, Ehelosigkeit, Armut, Gehorsam, die nur für Ordensleute verpflichtend waren und deren Beachtung für ein vollkommenes, gottgefälliges Leben entscheidend sein sollte. Die Überbewertung dieser »Ratschläge« konnte leicht zu einer Abwertung der Zehn Gebote führen, die dann selbst gleichsam nur noch den Status von Ratschlägen behielten.
und haben demgegenüber ihre Heuchelei und selbst erfundenen Frömmigkeitsübungen unverschämter Weise als in Gottes Augen besonders wertvolles Leben gerühmt und angepriesen, um nur ja ein bequemes Leben führen zu können, ohne Leiden erdulden zu müssen. Darum sind sie auch in die Klöster gelaufen, damit sie vor allen Menschen in Sicherheit wären und niemandem etwas Gutes tun müssten. Du aber wisse, dass dies die wahren, heiligen und göttlichen Taten sind, an denen Gott mit allen Engeln seine Freude hat und denen gegenüber alle von Menschen erfundenen Heiligkeitsleistungen lediglich Gestank und Dreck sind, die noch dazu nur Zorn und Verdammnis verdienen.