Vorrede 1530

Dass wir selbst den Katechismus so eingehend in Predigten behandeln und auch von andern fordern und erbitten, dies zu tun, dafür haben wir schwerwiegende Gründe. Denn wir sehen, dass leider viele Prediger und Pfarrherrn hierin sehr nachlässig sind und sowohl ihr Amt wie auch die Katechismuslehre geringschätzen. Einige tun es wegen ihrer großen Gelehrsamkeit, andere aber aus lauter Faulheit und Bauchsorge. Letztere verhalten sich, als wären sie um ihres Bauches willen Pfarrherr oder Prediger und hätten nichts zu tun, als zeitlebens den Ertrag der Kirchengüter für sich zu verbrauchen, wie sie es unter der Herrschaft des Papstes gewohnt waren. Alles, was sie lehren und predigen sollen, ist ihnen jetzt so reichlich, klar und leicht verständlich zugänglich gemacht in so vielen heilsamen Büchern und wirklichen – wie sie sie vorzeiten nannten – »Sich selbst haltenden Predigten«, »Schlafe ruhig«, »Fix und fertig« und »Schatztruhen«. Dennoch sind sie nicht einmal so treu und redlich, dass sie solche Bücher kauften, oder obwohl sie sie besitzen, sehen sie sie dennoch nicht an und lesen sie nicht. Ach, das sind allesamt schändliche Fresslinge und Bauchdiener [vgl. Röm 16,18; Phil 3,19], die besser Schweinehirten oder Hundeführer sein sollten als Seelsorger und Pfarrer.

Anmerkungen:
  • Vorrede aus dem Jahr 1530 zur dritten Auflage des Katechismus.

Sie sind von dem unnützen, beschwerlichen Geschwätz der sieben Tagzeitengebete befreit; wenn sie doch wenigstens nun stattdessen morgens, mittags und abends zum Beispiel ein Blatt oder zwei aus dem Katechismus, aus dem Betbüchlein, aus dem Neuen Testament oder sonst aus der Bibel lesen und ein Vaterunser für sich und ihre Pfarrkinder beten wollten, um dem Evangelium Ehre und Dank zu erweisen, durch das sie so mancherlei Last und Beschwerlichkeiten losgeworden sind, und schämten sich ein wenig, dass sie wie Säue und Hunde nicht mehr vom Evangelium behalten als diese faule, schädliche, schändliche, fleischliche Freiheit.

Anmerkungen:
  • Der Pfarrherr (Pfarrer) war Inhaber einer Pfarrei, aus deren Einkünften er seinen Lebensunterhalt bestritt, und als solcher zuständig für alle Bereiche von öffentlichem Gottesdienst, Seelsorge und Unterricht etc., während der Prediger in der Regel nur einen genau umrissenen Predigtauftrag versah.

  • »Sermones per se loquentes«, »Dormi secure«, »Paratos« et »Thesauros«: Titel von verbreiteten spätmittelalterlichen Predigtsammlungen, die den Pfarrern und Predigern die Arbeit abnehmen oder doch erleichtern sollten.

  • Priester, Mönche und Nonnen waren verpflichtet, siebenmal im Tageslauf zu bestimmten Zeiten Psalmen und weitere Stücke zu beten. Vor Sonnenaufgang begann man mit der Prim, es folgten Terz, Sext (um die Mittagszeit), Non, Vesper, Complet (Abendgebet), Matutin/Laudes (nach Mitternacht).

Denn die Menge achtet leider ohnedies das Evangelium gering, und wir richten nicht viel aus, selbst wenn wir all unseren Fleiß anwenden. Was sollte aber erst werden, wenn wir nachlässig und faul sein wollten, wie wir es unter dem Papsttum gewesen sind?

Dazu kommt noch das schändliche Laster und die heimliche böse Seuche der Überheblichkeit und des Überdrusses, so dass viele meinen, der Katechismus sei eine schlichte, anspruchslose Lehre, die sie nur einmal durchlesen müssten, um sie vollständig zu beherrschen; dann werfen sie das Buch in die Ecke und schämen sich gleichsam, weiter darin zu lesen. Ja man findet wohl etliche grobe Menschen und Geizhälse auch unter dem Adel, die vorgeben, man brauche fortan weder Pfarrherrn noch Prediger, man habe es ja in Büchern und könne es sich selbst beibringen, und sie lassen auch die Pfarreien getrost verfallen und verwahrlosen, obendrein Pfarrherrn und Prediger ausgiebig Not und Hunger leiden, wie es denn den verrückten Deutschen zu tun gebührt. Denn wir Deutschen haben solch schändliche Leute und müssen es hinnehmen. Das sage ich aber für mich: Ich bin auch ein Doktor und Prediger, wenigstens so gelehrt und erfahren, wie alle diejenigen sein mögen, die solche Vermessenheit und Überheblichkeit zeigen. Dennoch mache ich es wie ein Kind, dem man den Katechismus beibringt, und lese und spreche auch von Wort zu Wort morgens und wenn ich sonst Zeit dazu habe, das Vaterunser, die Zehn Gebote, das Glaubensbekenntnis, Psalmen etc., und muss noch täglich dazu lesen und studieren. Dennoch beherrsche ich den Stoff nicht so, wie ich gerne wollte, und muss ein Kind und Schüler des Katechismus bleiben, und ich bleibe es auch gern. Aber diese anspruchsvollen, wählerischen Gesellen wollen im Nu nach einmaligem Durchlesen gelehrter als alle Doktoren sein, alles können und nichts mehr brauchen. Wohlan, das ist ein sicheres Zeichen dafür, dass sie sowohl ihr Amt als auch die Seelen des (Kirchen-)volks, ja überdies Gott und sein Wort verachten, und sie brauchen nicht erst zu fallen [vgl. 1 Kor 10,12; 2 Petr 3,17], sondern sie sind schon allzu gräulich gefallen; sie hätten es nötig, dass sie wieder Kinder würden und das ABC zu lernen anfingen, von dem sie meinen, es längst hinter sich gelassen zu haben.

Deshalb bitte ich diese faulen Bäuche oder vermessenen Heiligen, sie wollten sich um Gottes willen überzeugen lassen und glauben, dass sie wahrhaftig, wahrhaftig nicht so gelehrt und so bedeutende Doktoren sind, wie sie es sich selbst einbilden, und niemals denken, dass sie diese Stücke ausgelernt hätten oder in jeder Hinsicht genug wüssten, auch wenn sie sich einbilden, sie könnten es nur allzu gut. Denn wenn sie es auch durchwegs aufs allerbeste wüssten und könnten (was doch in diesem Leben unmöglich ist), so bringt es doch mancherlei Nutzen und Frucht, wenn man es täglich liest und übt mit Gedanken und Reden, nämlich dass der Heilige Geist bei diesem Lesen, Reden und Bedenken gegenwärtig ist und immer neu und mehr Licht und Andacht dazu gibt, so dass es immer besser schmeckt und leichter aufgenommen wird, wie es Christus auch verspricht Mt 18[,20]: »Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich in ihrer Mitte.«

Anmerkungen:
  • Luther hatte 1522 sein »Betbüchlein« veröffentlicht (vgl. WA 10/2, 375–482), das auch katechetische Stücke enthielt und die altgläubigen Andachtsbücher ersetzen sollte.

Überdies hilft es ganz ungemein gegen den Teufel, die Welt, das Fleisch und alle bösen Gedanken, wenn man sich mit Gottes Wort beschäftigt, davon redet und darüber nachdenkt, so dass auch der erste Psalm diejenigen seligpreist, die »sich Tag und Nacht mit Gottes Gesetz beschäftigen« [Ps 1,2]. Ohne Zweifel wirst du keinen Weihrauch oder ein anderes Räucherwerk mit größerer Wirkung gegen den Teufel zubereiten können, als wenn du dich mit Gottes Geboten und Worten beschäftigst, davon redest, singst oder darüber nachdenkst. Das ist freilich das eigentliche Weihwasser und Zeichen, vor dem er flieht und mit dem er sich verjagen lässt. Nun solltest du ja schon allein deswegen diese Stücke gerne lesen, von ihnen reden, sie bedenken und dich mit ihnen beschäftigen, wenn du auch sonst keine Frucht und keinen anderen Nutzen davon hättest, als den Teufel und böse Gedanken damit verjagen zu können; denn er kann Gottes Wort nicht hören und nicht ertragen. Und Gottes Wort ist nicht wie irgendein haltloses Geschwätz, wie etwa die Sagen um Dietrich von Bern, sondern, wie der heilige Paulus sagt Röm 1[,16], »eine Kraft Gottes«, ja wirklich eine Kraft Gottes, die dem Teufel empfindliche Schmerzen zufügt und uns über die Maßen stärkt, tröstet und hilft.

Anmerkungen:
  • Im Anschluss an die Redeweise des Apostels Paulus nennt Luther hier »Fleisch« unsere gesamte irdische Existenz, die noch immer zur Sünde geneigt ist und bisweilen in eigentlich längst überwundene Verhaltensmuster zurückfällt. Vgl. unten bei Anm. 85.

  • Weihrauch und Weihwasser galten im Volksglauben (und z.T. auch im kirchlichen Ritus) als Abwehrmittel gegen Teufel und Dämonen.

Und was soll ich noch viel sagen? Wenn ich allen möglichen Nutzen und alle Frucht aufzählen sollte, die Gottes Wort hervorbringt, wo wollte ich Papier und Zeit genug hernehmen? Den Teufel nennt man auch Tausendkünstler; wie will man aber erst Gottes Wort nennen, das diesen Tausendkünstler mit all seiner Kunst und Macht verjagt und zunichtemacht? Es muss freilich mehr als ein Hunderttausendkünstler sein. Und wir sollten diese Macht, diesen Nutzen, diese Kraft und diese Frucht so leichtfertig verachten, noch dazu wenn wir Pfarrherrn und Prediger sein wollen? Dann sollte man uns allerdings nicht nur nichts zu essen geben, sondern uns auch mit Hunden aus dem Ort hetzen und uns dabei mit Pferdeäpfeln bewerfen, weil wir dies alles nicht nur täglich nötig haben wie das tägliche Brot, sondern es auch täglich haben müssen gegen das tägliche und nimmermüde Anfechten und Lauern des tausendkünstigen Teufels.

Und als ob dies nicht genug wäre zur Ermahnung, den Katechismus täglich zu lesen, so sollte uns doch allein schon das Gebot Gottes hinlänglich dazu bewegen, der Dtn 6[,7f] mit Ernst gebietet, dass man seine Gebote im Sitzen, Gehen, Stehen, Liegen und Aufstehen immer bedenken und wie ein beständiges Erinnerungszeichen vor Augen und in den Händen haben soll. Ohne Zweifel wird er dies nicht grundlos so ernsthaft verlangen und fordern; sondern weil er unsere Gefahr und Not kennt, dazu das fortwährende wütende Stürmen und Anfechten der Teufel, will er uns davor warnen, dagegen wappnen und davor schützen wie mit einer guten »Rüstung« gegen ihre »feurigen Pfeile« [vgl. Eph 6,11.16] und wie mit guter Arznei gegen ihre giftige Ansteckung und böse Vergiftung. O was für verrückte, wahnsinnige Narren sind wir: Nicht genug, dass wir inmitten so mächtiger Feinde wohnen oder uns aufhalten müssen, wie es die Teufel sind, wir verachten obendrein noch unsere Waffen und Verteidigungsmittel und sind zu faul, um sie anzusehen oder daran zu denken!

Anmerkungen:
  • Die Sagengestalt des Dietrich von Bern geht auf den Ostgotenkönig Theoderich († 526) zurück, der in Ravenna residierte und dort auch begraben liegt. Die an diese Gestalt angelagerten Volkssagen führt Luther häufiger als Beispiel für Legenden ohne Anhalt an der Realität an.

  • Um dieser Forderung Genüge zu tun, ist es jüdische Sitte, Gebetsriemen mit Lederkapseln zu tragen, die die Texte Ex 13,1–10.11–16; Dtn 6,4–9; 11,13–21 enthalten, je einen für den linken Arm und die Stirn. Sie werden in der Regel von Männern ab dem 13. Lebensjahr beim werktäglichen Morgengebet angelegt.

Solche gelangweilten, vermessenen Heiligen, die den Katechismus nicht täglich lesen und lernen wollen oder mögen, halten sich selbst offenbar für viel gelehrter, als es Gott selbst ist mit all seinen heiligen Engeln, Propheten, Aposteln und allen Christen. Denn solange Gott selbst sich nicht schämt, dies täglich zu lehren, weil er nichts Besseres zu lehren weiß, und immer dasselbe lehrt und nichts Neues oder anderes vornimmt – und alle Heiligen wissen nichts Besseres oder anderes zu lernen und können nicht auslernen –, dann sind wir wohl die allergebildetsten Leute, die wir uns einbilden, dass wir alles könnten und nicht mehr zu lesen und zu lernen brauchten, wenn wir es einmal gelesen und gehört haben, und könnten in einer Stunde auslernen, was Gott selbst nicht zu Ende lehren kann, obwohl er doch daran lehrt von Anfang der Welt bis zum Ende, und woran alle Propheten samt allen Heiligen zu lernen gehabt haben und dabei immer Schüler geblieben sind und noch bleiben müssen?

Denn das muss ja sein: Wer die Zehn Gebote gut und vollständig versteht, der muss die ganze Schrift verstehen, so dass er in allen Angelegenheiten und Fällen raten, helfen, trösten, beurteilen und im weltlichen wie im geistlichen Bereich richten kann, und er kann Richter sein über alle Lehre, Stände, Geister, Recht und was es sonst in der Welt geben mag. Und was ist der gesamte Psalter anderes als reines Bedenken und Einüben des ersten Gebots? Nun weiß ich allerdings, dass diese faulen Bäuche oder vermessenen Geister nicht einmal einen einzigen Psalm verstehen, geschweige die ganze Heilige Schrift, meinen aber, den Katechismus zu kennen, und verachten ihn, der ein kurzer Auszug und eine Zusammenfassung der ganzen Heiligen Schrift ist.

Darum bitte ich nochmals alle Christen, insbesondere die Pfarrherrn und Prediger, sie möchten sich nicht verfrüht für Doktoren halten und sich einbilden, alles zu wissen (Dummheit und Stolz wachsen auf einem Holz), sondern sich täglich eifrig darin üben und sich immerzu damit beschäftigen, sich außerdem mit aller Sorgfalt und allem Fleiß hüten vor der vergiftenden Wirkung solcher Überheblichkeit oder der Einbildung eigener Meisterschaft, dazu beständig fortfahren mit Lesen, Lehren, Lernen, Bedenken und Nachsinnen und nicht aufhören, bis sie erfahren und gewiss werden, dass sie den Teufel totgelehrt haben und gelehrter geworden sind als Gott selbst und alle seine Heiligen.

Anmerkungen:
  • Im Original ein anderes Sprichwort: »Es geht an Dünken und gespanntem Tuch viel ab« = In Konfrontation mit der Realität schrumpft das übergroße Selbstbild des Eingebildeten ähnlich stark wie das neue Tuch beim ersten Waschen.

Wenn sie diesen Fleiß aufbringen, so will ich ihnen zusagen, und sie werden es auch merken, welche Frucht sie erlangen werden und wie gebildete Leute Gott aus ihnen machen wird, so dass sie mit der Zeit selbst zugeben werden, dass sie, je länger und je mehr sie sich mit dem Katechismus beschäftigen, desto weniger davon wissen und umso mehr daran zu lernen haben; und es wird ihnen als Hungrigen und Durstigen dann erst richtig schmecken, was sie jetzt vor großer Fülle und Überdruss nicht riechen mögen. Dazu gebe Gott seine Gnade. Amen.